Wie sieht ein Traumtag in Montreux aus? Diese Frage stellten wir den Journalisten, die jeden Sommer über die Konzerte und hinter den Kulissen der MJF berichten! Finden Sie ihre Geschichten, vom 3. bis 18. Juli auf unserer Website.
«Cheers!», sagt Grace Jones, hebt ihr Flûte und zeigt die gebleachten Zähne. Es ist nachmittags um 16 Uhr, die Diva eben erst aus ihrem Queen-Size-Bett des Montreux Palace aufgestanden. Grace braucht bekanntlich nur wenig zum Leben: «Champagner, Austern und – Sex.» Und rollt die grossen Augen. Wie auch nach dem lockeren Interview, wenn sie dann gegen 2 Uhr in der Früh mal wieder im Stravinski auftritt und mit ihrem Dub-Bass meinen Bauch massiert.
Betörend jubiliert sie vom «Devil in my Life» in ihrem «Vie en rose». Lächelnd zieht ein Verflossener seinen Hut, der diese Teufel auch bestens kennt: Leonard Cohens ernsthaftes Auge ruht wohlwollend auf der pulsierend tanzenden Szene. Er, der hier auch betörende Konzerte lieferte, sagt: «Es ist eine Musik, so schön, dass man sich dazu die Pulsadern aufschneiden will.» Poetik des Überlebens muss unter die Haut gehen!
Doch vorab erklärt mir Grace Jones mit dunkler Stimme, weshalb sie gerne erst zu später Stunde auftritt. Dann sind die Fans auch ziemlich angetüdelt und merken nicht mehr, dass die 72-Jährige nicht mehr ganz so fit ist, wie sie es auf Fotos zu sein verspricht. Barbusig, wie vor drei Jahren, würde sie heute nicht mehr am Montreux Jazz Festival (MJF) auftreten. Doch ihre Songs, zumal vom letzten Album «Hurricane», sind weiterhin elektrisierende Versprechen für Tanzparties.
Angeheizt hatte am Abend meines Traumtages Jazzsängerin Melody Gardot, die einen noch transparenteren Sound als bislang kredenzte. «Musik ist meine beste Droge», erklärte mir die charmante Lady immer wieder, die Wiener und Warschauer Wurzeln hat, in New Jersey zur Welt kam und heute in Paris lebt. Gardot trägt immer noch Sonnenbrille, weil sie mit 19 Jahren einen tragischen Umfall erlitt, als sie auf dem Velo von einem Jeep angefahren wurde. Sie lag elf Monate im Spital, da sie sich Rückenverletzungen sowie ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hatte, woran sie noch heute leidet und hypersensible Augen hat. Immerhin: «Singen brachte mir mein Leben zurück.»
Auch der US-Rocker weiss, worum sich alles dreht: Grace & Melody. Glamour & Beats. Show & Musik.»
Mitten im Publikum tummelt sich auch Lenny Kravitz, versteckt hinter grosser Sonnenbrille, die Lederhose wie stets knalleng. Der Headliner vom 13. Juli dieses 54. Konzertjahres nutzt die Chance, in intimem Rahmen die Konkurrenz zu checken. Auch der US-Rocker weiss, worum sich alles dreht: Grace & Melody. Glamour & Beats. Show & Musik. Darum geht es im anregendsten Metier der Unterhaltung. Dieser mitreissenden Live-Popkunst, die es schafft, die Welt mit Songs in wenigen Minuten zu erklären. Und das Publikum im Idealfall dazu noch zum Tanzen zu bringen.
«Konzerte am Montreux Jazz Festival bieten dafür seit 1967 Bühnen vom Feinsten. Drei Gründe: brillante Akustik; Nähe, weil die Künstler hier wie unter dem Vergrösserungsglas auftreten; Schweizer Gastfreundschaft.»
Konzerte am Montreux Jazz Festival bieten dafür seit 1967 Bühnen vom Feinsten. Drei Gründe: brillante Akustik; Nähe, weil die Künstler hier wie unter dem Vergrösserungsglas auftreten; Schweizer Gastfreundschaft. Das schätzt auch Lenny. Bei unserem letzten Treffen hing Kravitz bekifft in den Seilen und plapperte, weshalb er so fit sei: «Viel Sex, mein Freund!» Er wehrt sich gegen die Probleme dieser Welt: «Ich habe genug von Rassismus. Ich habe genug vom Krieg. Ich habe genug von Umweltzerstörung und der Gier und Verlogenheit unserer Staatsoberhäupter. Wir müssen dringend ein höheres Verständnis für die Menschheit und diesen Planeten entwickeln.» Sein Vorbild ist Prince, der der Gegend dreimal seine Aufwartung und mit «Lavaux» auch einen Song schrieb, Kravitz ihn «das Genie aller Genies». Beide sorgten für legendäre Auftritte am MJF.
Von solchen Konzert-Höhepunkten in Montreux dürfen wir heuer leider nur träumen. Während die einen wütend «Fuck Corona» skandieren, bleibt Lenny Kravitz für einmal vernünftig. Er sagte unlängst bei der Verschiebung seiner Welttournee: «Ich hoffe, euch alle bald in sicherer Umgebung wiederzusehen. Wir sind alle eins. Lasst uns zusammenhalten. Lasst die Liebe regieren.»
Wie wusste doch schon Cohen: «Der letzte Gedanke ist der beste Gedanke.»
Mathias Haehl, Freelancer